Kulturspezifisch-ganzheitlich beraten: Kultur als Schlüssel zur Ernährungsgesundheit

Kulturspezifisch-ganzheitlich beraten: Kultur als Schlüssel zur Ernährungsgesundheit
© pexels, Monstera Production

„Ich hatte starken Eisenmangel. Anstatt dass die Ärztin mir hilft, sah sie die Schuld in meinem Kopftuch.“ – Diese an Dr. Hatun Karakaş herangetragene Erfahrung einer Patientin aus dem Jahr 2021 steht nicht allein. Sie veranschaulicht eindrücklich, wie Missverständnisse oder Vorurteile im Gesundheitswesen Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen treffen können. Solche Erlebnisse sind emotional belastend und können dazu führen, dass Betroffene medizinische Unterstützung meiden​. Für Ernährungsfachkräfte zeigen diese Beispiele vor allem eines: Eine kulturspezifisch-ganzheitliche Ernährungsberatung ist unerlässlich, um alle Menschen erfolgreich zu erreichen.

Was bedeutet kulturspezifisch-ganzheitliche Beratung?

Unter kulturspezifisch-ganzheitlicher Ernährungsberatung versteht man eine Beratung, die systematisch die kulturellen und religiösen Hintergründe der Ratsuchenden einbezieht und den Menschen in seiner Gesamtheit betrachtet. Jede Kultur – und oft auch die Religion – prägt die Ernährungsvorlieben, Tabus und Gewohnheiten wesentlich. So unterscheiden sich z. B. traditionelle Mahlzeiten, feste Essenszeiten, Speisevorschriften oder Fastenbräuche wie Ramadan deutlich von dem, was in Deutschland als „üblich“ gilt. In einer kultursensiblen Beratung werden diese kulturellen Prägungen bewusst berücksichtigt, statt sie auszublenden. Ziel ist es, die Stärken der vertrauten Ernährungsweise zu erkennen und darauf aufzubauen​.

Gleichzeitig bedeutet Ganzheitlichkeit, die Person in ihrer individuellen Lebenswelt wahrzunehmen. Dazu zählen familiäre und soziale Einflüsse, persönliche Überzeugungen und Ressourcen ebenso wie gesundheitliche oder psychologische Aspekte. Kurz: Kulturspezifisch-ganzheitlich beraten heißt, den Menschen mit seinem kulturellen Gepäck abzuholen und ihn als Ganzes zu sehen.

Auch Fachartikel betonen bereits, dass nachhaltige Therapieerfolge bei Patient*innen mit Migrationshintergrund oft nur mit einem kulturell und religiös sensiblen Vorgehen erreichbar sind​. Es genügt also nicht, einen universellen „One-Size-Fits-All“-Ratschlag zu geben – die Anpassung an kulturelle Bedürfnisse ist der Schlüssel, um überhaupt Wirkung zu erzielen.

Vielfalt erkennen: Kultur prägt das Essverhalten

Die Notwendigkeit kulturspezifischer Ansätze zeigt bereits ein Blick auf die Bevölkerung. Heute hat fast jede dritte Person in Deutschland einen Migrationshintergrund​– Tendenz steigend. Diese rund 25 Millionen Menschen stammen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen mit jeweils eigenen Sprachen, Traditionen und Werten. Entsprechend vielfältig sind ihre Esskulturen. Unsere jeweilige Esskultur prägt das Essverhalten stärker, als wir oft denken​. Sie bestimmt, was wir als schmackhaft empfinden, wie wir essen (z. B. gemeinsam in der Familie oder unterwegs), und wann wir essen. Wird eine solche Prägung in der Beratung ignoriert, fühlen sich Klient*innen leicht unverstanden – und gut gemeinte Ratschläge laufen ins Leere.

Eine Kultur wertzuschätzen, heißt hingegen, sie als Ressource zu nutzen. So lassen sich kulturelle Gewohnheiten gezielt für eine Ernährungsumstellung einbinden​: Wer etwa weiß, welche gesunden traditionellen Gerichte in der Herkunftsfamilie einer Patientin beliebt sind, kann genau dort anknüpfen, anstatt völlig fremde Speisepläne aufzuzwingen. Kulturelle Vielfalt ist also kein „Problem“, sondern vielmehr ein Schatz an Möglichkeiten, um Menschen wirksamer zu begleiten. Wenn Sie als Fachkraft mit offenen Augen und echtem Interesse auf die Essgewohnheiten Ihrer Klient*innen schauen, schaffen Sie Vertrauen – die Grundlage jeder erfolgreichen Beratung.

Herausforderungen in der Praxis meistern

Natürlich bringt kulturspezifische Ernährungsberatung auch Herausforderungen mit sich. Viele Fachkräfte sehen sich etwa mit Sprachbarrieren konfrontiert, wenn Deutsch nicht die Muttersprache der Ratsuchenden ist. Ohne Dolmetscher oder fremdsprachige Materialien fällt die Verständigung schwer – ein zentrales Hindernis, das laut Expert*innen häufig zu Versorgungsproblemen beiträgt​. Auch unterschiedliche Krankheitsverständnisse oder Bildungshintergründe spielen eine Rolle​: Was in der einen Kultur als gesund gilt, mag in einer anderen unbekannt oder sogar negativ belegt sein. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt, um Missverständnisse zu vermeiden.

Ein weiterer Knackpunkt sind religiöse Praktiken und Vorschriften. Diese können den Alltag stark beeinflussen – man denke an längere Fastenzeiten wie den Ramadan, an strikte Speisegebote oder an kulturelle Feste mit speziellen Gerichten. Solche Faktoren erfordern Flexibilität in der Beratung (z. B. Anpassung von Diätplänen an Fastenzeiten), werden aber im stressigen Praxisalltag leicht übersehen. Auch strukturelle Hürden wie begrenzte Zeit pro Patient*in oder fehlende kulturspezifische Rezepte und Lebensmittelpyramiden erschweren die Individualisierung der Beratung.

 

Nicht zuletzt müssen wir Berater*innen uns unserer eigenen Vorannahmen bewusst werden. Jede*r bringt unbewusste Stereotype mit, geprägt durch die soziale Umgebung​. Diese Vorurteile fließen – oft ohne Absicht – in Gespräche ein. So passiert es, dass etwa eine Patientin mit Kopftuch vorschnell auf „kulturellen Stress“ oder Vitaminmangel durch Verhüllung reduziert wird (wie im eingangs geschilderten Fall) und ihre eigentlichen Symptome nicht ernst genommen werden​.​

Laut dem Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor 2023 haben über 34 Prozent der Befragten mit eigener Migrationserfahrung schon einmal eine Arztpraxis gewechselt, weil sie sich nicht ernst genommen fühlten​. Diese Zahl ist alarmierend. Sie zeigt, wie wichtig kultursensible Kommunikation für die Gesundheitsversorgung ist. Reflexion ist daher der erste Schritt: Hinterfragen Sie gängige Annahmen („Die essen doch alle …“, „Bei denen liegt das am Kulturkreis …“) und hören Sie Ihren Gegenüber wirklich zu. So lassen sich Pauschalurteile überwinden.

 

Die gute Nachricht ist, dass man all diese Herausforderungen angehen kann – und dabei nicht allein ist. Immer mehr Initiativen und Fachgesellschaften unterstützen Ernährungsberatende dabei, interkulturelle Kompetenz aufzubauen. So fordert beispielsweise die Deutsche Diabetes-Gesellschaft, dass bei Präventions- und Schulungsprogrammen Sprachkenntnisse und soziale Besonderheiten stärker berücksichtigt und etablierte Programme vereinfacht und angepasst werden müssen​.

Dieses Umdenken in der Fachwelt nimmt Druck von den einzelnen Berater*innen: Kultur- und Sprachmittlung wird zunehmend als Teamaufgabe verstanden – manchmal hilft die Zusammenarbeit mit medizinischen Dolmetschern, manchmal mit Community-Workerinnen.

Chancen nutzen: Kultur als Brücke zum Erfolg

Den beschriebenen Herausforderungen stehen große Chancen gegenüber. Wer sich auf kulturspezifisch-ganzheitliche Beratung einlässt, wird feststellen, dass die Arbeit bereichert wird – fachlich wie menschlich. Sie können als Ernährungsfachkraft ein Vertrauensverhältnis aufbauen, das über rein sachliche Ratschläge hinausgeht. Viele Klient*innen honorieren es, wenn ihre Herkunft und ihre Gewohnheiten respektiert werden. Dies schafft Motivation und steigert die Compliance: Empfehlungen, die passen, werden viel eher umgesetzt.

 

Zudem eröffnen sich neue Perspektiven. Im Austausch mit Menschen aus verschiedenen Kulturen lernen nicht nur die Ratsuchenden, sondern auch Sie als Beratende hinzu. So manche traditionelle Küche hält äußerst gesunde und schmackhafte Rezepte bereit – von fermentierten Gemüsen über Hülsenfruchtgerichte bis zu vielfältigen Gewürzen. Indem wir diese kulturellen Schätze integrieren, entsteht oft ein kreativer Mix, der Genuss und Gesundheit fördert. Kein Wunder, dass interkulturelle Öffnung längst als Qualitätsmerkmal gilt​: Sie erweitert den Horizont der Beratung und führt zu individuelleren Lösungen.

Ein praktisches Beispiel dafür liefert ein Projekt in Berlin: Hier kooperierte die Adipositas-Ambulanz der Charité mit dem Programm „Stadtteilmütter“. In diesem Programm werden Frauen mit eigener Migrationsgeschichte zu Gesundheitsthemen geschult, um als Multiplikatorinnen in ihren Communities zu wirken​.

Die Ernährungsberater*innen der Klinik vermittelten den Stadtteilmüttern ihr Wissen rund um gesunde Ernährung – und lernten im Gegenzug enorm viel über kulturelle Gewohnheiten der Familien​. Das Ergebnis: mehr Verständnis auf beiden Seiten und passgenauere Beratungsansätze für adipöse Kinder und ihre Eltern. Dieses Fallbeispiel zeigt, wie kulturelle Vermittlung in der Praxis aussehen kann: durch Offenheit, Zusammenarbeit und gegenseitiges Lernen entstehen Lösungen, von denen alle profitieren.

Am Ende des Tages bedeutet kulturspezifisch-ganzheitliche Beratung vor allem, Mut zu haben, Neues zu entdecken. Kulturspezifisch und ganzheitlich zu beraten ist keine lästige Zusatzaufgabe, sondern entwickelt sich zum Standard guter Ernährungspraxis. Lassen Sie sich davon inspirieren: Jedes kleine Stück kulturelle Kompetenz – sei es ein neues Rezept aus einer anderen Heimat, ein Wort in der Muttersprache Ihrer Klient*innen oder einfach ein offenes Ohr für deren Lebensgeschichte – bringt Sie und Ihre Beratung einen Schritt weiter. Nutzen Sie Fortbildungen und den kollegialen Austausch, um Ihre interkulturelle Kompetenz zu erweitern. Vor allem aber: Bleiben Sie offen und empathisch. So gestalten Sie eine Ernährungsberatung, die wirklich alle mitnimmt – und leisten einen wichtigen Beitrag zu einer gesunden, vielfältigen Gesellschaft.

CulturaSustain ist ein Projekt, das das Ziel verfolgt, kulturspezifische und nachhaltige Ansätze in der Ernährungsberatung stärker im fachlichen Diskurs zu verankern und Fachkräfte mit praxisnahen Tools für eine diversitätsgerechte Beratung auszustatten.

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Verfasser*in: Misava Macamo

B.Sc. Diätetik, ist Dozentin, Mentorin und Autorin. Mit interkulturellem Hintergrund begleitet sie Fachkräfte hin zu mehr Achtsamkeit, beruflicher Erfüllung und kultursensibler Ernährungskompetenz.