Kennen Sie die Dünndarmfehlbesiedlung? Dann kennen Sie auch SIBO – das Small Intestinal Bacterial Overgrowth. Es handelt sich dabei um eine bakterielle Überwucherung des Dünndarms mit Keimen, die typischerweise im Dickdarm vorkommen. Dieses Ungleichgewicht kann massive Auswirkungen auf die Verdauung und das Wohlbefinden der Betroffenen haben.
Laut aktuellen Schätzungen könnte SIBO bei bis zu 60 Prozent der Reizdarmpatient*innen eine ursächliche Rolle spielen. Angesichts von über elf Millionen Reizdarm-Betroffenen allein in Deutschland eröffnet sich hier ein enormes therapeutisches Potenzial – auch und gerade in der zertifizierten Ernährungstherapie.
Während SIBO in der naturheilkundlichen Praxis und bei nicht-zertifizierten Ernährungsberater*innen bereits häufig thematisiert wird, geschieht dies oft auf Basis restriktiver Diätansätze. Diese können jedoch nach aktuellem wissenschaftlichem Stand langfristig mehr schaden als nützen – insbesondere im Hinblick auf die Darmbarriere, das Mikrobiom, die Nährstoffversorgung, sowie die Gefahr der Entstehung von Essstörungen.
Für zertifizierte Ernährungsfachkräfte bietet sich hier ein relevantes und wachsendes Arbeitsfeld. Mit evidenzbasierter Beratung, individueller Ernährungstherapie und der Integration neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse können wir entscheidend zur nachhaltigen Behandlung von SIBO und Reizdarmsyndrom beitragen.
Am Anfang steht die Diagnostik – SIBO sicher erkennen
Patient*innen mit wiederkehrenden Blähungen, abdominellen Schmerzen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Diarrhö oder Obstipation suchen häufig unsere ernährungstherapeutischen Praxen auf. Eine initiale Besserung durch Ernährungsumstellung ist zwar oft möglich, bleibt jedoch nicht von Dauer – genau hier sollte der Verdacht auf eine Dünndarmfehlbesiedlung (SIBO) in Betracht gezogen werden.
Diagnose mittels Atemtest – aber richtig
Der in Deutschland gängige Wasserstoff-Atemtest mit Glukose misst die bakterielle Fermentation im oberen Dünndarm. Da Glukose bereits im proximalen Dünndarm vollständig resorbiert wird, erfasst dieser Test nicht zuverlässig bakterielle Fehlbesiedlungen im mittleren und distalen Dünndarm – also genau dort, wo SIBO typischerweise beginnt, nämlich vom Kolon aus aufsteigend.
Das North American Consensus, ein Zusammenschluss von 17 Klinikern und Wissenschaftlern, empfiehlt daher den Laktulose-Atemtest. Laktulose wird im Dünndarm nicht resorbiert, passiert diesen vollständig und gelangt in den Dickdarm, wo sie fermentiert wird. Befinden sich jedoch kolontypische Bakterien bereits im Dünndarm, kommt es dort vorzeitig zur Wasserstoffproduktion, die im Atemtest messbar ist.
Methan nicht vergessen
Ein weiterer relevanter Punkt: Bei einigen Patient*innen wird durch methanogene Mikroorganismen der Wasserstoff (H₂) in Methan (CH₄) umgewandelt. Dies betrifft insbesondere Patient*innen mit Obstipation. Auch dieser Aspekt wurde im North American Consensus explizit aufgenommen: Es wird empfohlen, sowohl H₂ als auch CH₄ im Atemtest zu erfassen, um die Diagnosesicherheit zu erhöhen.
Heimtests als praktikable Lösung
In Deutschland sind entsprechende Atemtestgeräte bislang nicht flächendeckend verfügbar – insbesondere die Kombination von Wasserstoff- und Methanmessung ist selten. Validierte Heimtests über 180 Minuten, die von spezialisierten Anbietern bereitgestellt werden, bieten eine sinnvolle Alternative. Sie ermöglichen eine standardisierte Durchführung und liefern zuverlässige Messergebnisse, auf deren Basis eine gezielte Therapie aufgebaut werden kann.
Die Patientinnen und Patienten erhalten eine detaillierte Anleitung zur eigenständigen Durchführung des Tests in den eigenen vier Wänden. Die Auswertung erfolgt durch eine Ärztin oder einen Arzt, die bzw. der anschließend die Ergebnisse interpretiert und das weitere therapeutische Vorgehen von den Ergebnissen ableitet.
SIBO: Therapie nur interdisziplinär möglich
Ein positiver SIBO-Atemtest stellt den Auftakt zu einer zielgerichteten, interdisziplinären Therapie dar. Weder Ernährung, noch Probiotika oder Präbiotika sind in der Lage, eine bakterielle Fehlbesiedlung im Dünndarm effektiv zu beseitigen. Pro- und Präbiotika können zu Beginn kontraproduktiv wirken, da sie die bakterielle Gasbildung im Dünndarm verstärken können – hier ist ein fein abgestimmtes Vorgehen erforderlich.
Antibakterielle Therapie – ärztliche Verantwortung
Die eigentliche Eliminierung der überwuchernden Bakterien gelingt nur über eine gezielte antibiotische oder pflanzenbasierte antimikrobielle Therapie. Diese sollte durch eine ärztliche Fachkraft erfolgen, die die gesamte Krankheitsgeschichte, Begleitdiagnosen sowie bestehende Medikation berücksichtigt.
Da es unter der Therapie häufig zu einer Verstärkung gastrointestinaler Beschwerden kommt, spielt die begleitende Ernährungstherapie eine zentrale Rolle. Sie unterstützt die Adhärenz zur Behandlung, lindert Symptome und verbessert die Lebensqualität während der antibakteriellen Phase.
Darmflora stabilisieren – Ernährung als Schlüssel
Nach Abschluss der antimikrobiellen Behandlung beginnt die eigentliche Regenerationsphase. Ziel ist es, das Dickdarmmikrobiom systematisch aufzubauen und die Transitzeit zu optimieren – beides entscheidende Faktoren für einen nachhaltigen Therapieerfolg. Hierbei kommen qualitativ geeignete Präbiotika und eine schrittweise Re-Integration fermentierbarer Kohlenhydrate (z. B. FODMAPs) zum Einsatz.
Diese strukturierte Wiedereinführung ehemals gemiedener Lebensmittel ist ein zentraler Bestandteil der Ernährungstherapie. Sie trägt dazu bei, die Darmdiversität zu fördern, die Ernährungsauswahl zu erweitern und den psychischen Stress rund ums Essen zu reduzieren.
Mehr Lebensqualität – ein greifbares Ergebnis
In der Praxis zeigt sich: Patient*innen, die diesen mehrstufigen, interdisziplinären Weg durchlaufen, berichten häufig von signifikanten Verbesserungen – nicht nur körperlich, sondern auch emotional und sozial. Viele empfinden es als einen „Neustart ins Leben“: wieder ohne Beschwerden, mit Freude am Essen und voller Teilhabe am Alltag.
Literatur
Pimentel M. et al. (2020). ACG Clinical Guideline: Small Intestinal Bacterial Overgrowth. *Am J Gastroenterol.*
Rezaie A. et al. (2017). North American Consensus on Breath Testing. *Am J Gastroenterol.*