Ernährungsinterventionen in der Tibetischen Medizin

Ernährungsinterventionen in der Tibetischen Medizin

Ernährungsinterventionen im Rahmen der Tibetischen Medizin sind eine von insgesamt vier Interventionssäulen. Präventive und therapeutische Ernährungsinterventionen stehen damit gleichberechtigt neben Verhaltensinterventionen, Arzneimittelinterventionen und der Anwendung äußerer Heilmittel. Die Herleitung und die Anschauungsweise über die Entstehung von Gesundheit und Krankheit ist in der Tibetischen Medizin anders als in der westlichen Ernährungstherapie und Biomedizin. Es gibt aber Parallelen. Sie betreffen den ganzheitlichen und individuellen Ansatz in der Ernährungstherapie, den Fokus auf Ernährungsprävention und den Einsatz gemeinsam genutzter Gewürze und Arzneipflanzen, z.B. Galgant und Kümmel.

Tibetische Medizin: Gegenstand und Einordnung

Die Tibetische Medizin ist ein ganzheitliches Medizinsystem, das ausschließlich auf Erfahrung beruht [1, 2]. Wie in der Biomedizin wird auch in der Tibetischen Medizin zwischen Gesundheit und Krankheit sowie Prävention und Therapie unterschieden [3]. Die dahinterliegenden Konzepte und Sichtweisen auf die Entstehung und dem Erhalt von Gesundheit sowie der Entstehung und dem Verlauf von Krankheiten unterscheidet sich von der naturwissenschaftlich fundierten Biomedizin jedoch fundamental.

 

Gesundheit und Krankheit werden in der Tibetischen Medizin immer in Verbindung mit der individuellen Konstitution betrachtet [2]. Gleichzeitig werden Gesundheit und Krankheit als Zustände verstanden, die mit bestimmten Eigenschaften und Empfindungen assoziiert sind. Im Beschwerde- oder Krankheitsfall können sich diese Zustände durch Symptome äußern, z.B. abdominale Schmerzen [4].

Zentraler Begriff mit verschiedenen Bedeutungen: Nyes.pa

Der Konstitutionstyp, Eigenschaften, Empfindungen und Symptome werden in der Tibetischen Medizin mit einem Wort ausgedrückt Nyes.pa (Phonetik: Nye.pa). Unterschieden werden drei Nyes.pa: Wind (tibetisch: rLung; Phonetik Lung), Galle (tibetisch: mKhris.pa; Phonetik Tipa) und Schleim (tibetisch: Badkan; Phonetik: Bäkän oder Päkän) [5, 6]. Zudem werden den drei Nyes.pa ein oder zwei Elemente zugeordnet [7]:

  • Wind: Luft und Wind
  • Galle: Feuer
  • Schleim: Erde und Wasser

Eigenschaften der Nyes.pa lassen sich allgemein in kalt/kühlend und in warm/heiß einteilen: Kalt/kühlend sind Wind und Schleim, warm/heiß ist die Eigenschaft des Nyes.pa Galle [8].

Hintergrundwissen

Die Zuordnung Hitze und Kälte ist wörtlich und im übertragenen Sinne zu verstehen. So fördert beispielsweise eine kalte Umgebungstemperatur die Zunahme von konstitutioneller Kälte und eine warme Umgebungstemperatur fördert konstitutionelle Wärme bzw. Hitze. Der Verzehr von Lebensmitteln, denen in der Tibetischen Medizin Kälteeigenschaften zugeordnet werden wie z. B. Weizen, Kirschen und Birnen haben ebenfalls einen konstitutionell kühlenden Effekt, wohingegen Lebensmittel wie z. B. Hafer, Mais und Hühnerfleisch konstitutionell wärmend wirken. Aber auch die Psyche beeinflusst die Konstitution. So fördert beispielsweise Grübeln Kälte und Wut Hitze.

 

Die Konstitution eines Menschen wird also von zahlreichen Faktoren beeinflusst und ist keineswegs statisch – da der Mensch in seiner Umwelt ständigen Veränderungen unterliegt.

Die Nyes.pa ziehen sich wie ein Roter Faden durch alle Bereiche der Tibetischen Medizin und sind für ein basales Verständnis u. a. in den Bereichen Physiologie, Pathophysiologie, Prävention und Therapie unerlässlich [8].

In einem gesunden Organismus befinden sich die Nyes.pa gemäß der individuellen Konstitution im Gleichgewicht. Wird dieses Gleichgewicht gestört – fällt ein Nyes.pa ab oder nimmt dieser zu – können sich hieraus Beschwerden und Krankheiten entwickeln. Ziel aller Präventions- und Therapiemaßnahmen in der Tibetischen Medizin ist der Erhalt oder die Widerherstellung der Gesundheit, indem ein Gleichgewicht zwischen den Nyes.pa bestehen bleibt oder dieses Gleichgewicht wieder hergestellt wird – und zwar entsprechend der individuellen Konstitution [8].

Bild 1: Lehrbuch über Tibetische Medizin © Nadine Berling

Den Konstitutionstyp und den aktuellen Status der Nyes.pa ermitteln Tibetische Ärztinnen/Ärzte mittels Anamnese und diagnostischen Methoden, z. B. Untersuchung des Pulses, der Zunge und des Urins [8].

Präventions- und Therapieinterventionen

Präventions- und Therapieinterventionen in der Tibetischen Medizin umfassen vier Säulen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen (s. Abb. 1) [5].

Abb. 1: Präventions- und Therapieinterventionen in der Tibetischen Medizin [5, 9]

Ernährungsinterventionen können mit jedweden Lebensmitteln stattfinden. Jedem Lebensmittel werden bestimmte Eigenschaften zugeordnet, die je nach Zubereitungsart veränderlich sind. Beispielsweise wird warmer Milch eine wärmende Eigenschaft zugeordnet, weswegen das Lebensmittel generell bei einem Überhang von Wind empfohlen wird. Joghurt verfügt nach tibetischer Auffassung hingegen über kühlende Eigenschaften. Menschen mit einem Wind-Überhang sollten daher keinen oder wenig Joghurt essen, sondern Menschen, mit einem Galle-Überhang [4].

 

Des Weiteren zielen Ernährungsinterventionen auf den Einsatz von bestimmten Gewürzen ab. Insbesondere bei gastrointestinalen Beschwerden und Erkrankungen wird den Menschen empfohlen, bei der Zubereitung von Speisen und Getränken bestimmte Gewürze einzusetzen oder zu bevorzugen. Viele dieser Gewürze sind auch in Deutschland bekannt, darunter befinden sich Kardamom, Koriander, Kümmel, Fenchel, Galgant, Ingwer und Zimt [3, 10].

Bild 2: Kräutermarkt im Himalaya, © Nadine Berling

Verhaltensinterventionen reichen von Empfehlungen, um das persönliche Wohlbefinden zu steigern bis hin zum Apell bestimmte meditative Praktiken zu vollziehen. Menschen mit einem leichten Schleimüberhang wird u. a. empfohlen sich viel zu bewegen – auch weil diesem Konstitutionstyp eine Neigung zu Übergewicht zugeordnet wird. Psychotherapien wie die kognitive Verhaltenstherapie gibt es in der Tibetischen Medizin nicht. Menschen mit psychischen Beschwerden werden aber üblicherweise durch ausgebildete Lamas und Annis (Mönche und Nonnen) begleitet und werden durch spirituelle Praktiken und Meditation angeleitet und unterstützt. Auch werden Arzneimittel und äußere Heilmittel zur Behandlung psychischer Beschwerden und Krankheiten eingesetzt [4].

Arzneimittelinterventionen finden bei Beschwerden und Krankheiten statt, selten zu Präventionszwecken. Die Anwendung erfolgt zumeist in Form von arzneipflanzenhaltigen Tabletten, Pulvern und Suppositorien. Tees kommen in der Tibetischen Medizin kaum zum Einsatz. Hintergrund ist, dass die Hochebene Tibet karg ist, und Reste von Pflanzen, z. B. aus Teezubereitung als Verschwendung gewertet wird. Daher sind in Tibetischen Arzneimitteln immer getrocknete, gepulverte ganze Pflanzenteile zu finden. Auch Mineralien und tierische Substanzen werden in tibetischen Arzneimitteln eingesetzt, z. B. Salz und Honig [11]. Bei tibetischen Arzneimitteln handelt es sich immer um Kombinationspräparate, die mindestens drei bis über 100 verschiedene Substanzen enthalten können. Hintergrund ist, dass mindestens eine Substanz zur Behandlung der Hauptursache dienen soll, die zweite Substanz die Wirkung unterstützen und die dritte Substanz möglichen Nebenwirkungen vorbeugen soll [12].

Äußere Heilmittel werden zu Präventionszwecken und zur Behandlung von Beschwerden und Krankheiten eingesetzt. Die Verfahren reichen von heißen Bädern, über Moxibustion (Brennen), Aderlass, Kälteanwendungen bis hin zu Massagen [3].

Tibetische Ernährungstherapie: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur westlichen Ernährungstherapie

Die Tibetische Ernährungstherapie ist in der Interventionssäule „Ernährungsinterventionen“ verankert (s. Abb. 1). Sie steht mit den übrigen Interventionen gleichberechtigt auf einer Stufe und wird ausschließlich von Tibetischen Ärztinnen/Ärzten durchgeführt [5].

Hintergrundwissen

Speziell ausgebildete Fachkräfte für Ernährung gibt es in der Tibetischen Medizin ebenso wenig wie z. B. für Physiotherapie oder Pharmazie. Einzig bei psychischen Erkrankungen werden ausgebildete Lamas oder Annis hinzugezogen. Diese sind aber nicht als Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen oder Psychiater/Psychiaterinnen tätig, sondern in ihrer klerikalen Funktion mit dem Ziel z. B. durch Anleitung und bestimmte meditative Techniken, dem Menschen zu helfen.

 

Die Ausbildung oder das Studium der Tibetischen Medizin dauert im Schnitt 10 Jahre.

Anders als in westlichen Ernährungskonzepten dient die Ernährung innerhalb der Tibetischen Medizin ausschließlich dazu die Gesundheit des Menschen zu erhalten oder Beschwerden sowie Krankheiten zu behandeln. Es geht in der Tibetischen Ernährung nicht um die Versorgung mit Energie und Nährstoffen, sondern um die präventive und therapeutische Anwendung bestimmter Lebensmittel und Getränke im medizinischen Kontext [2, 10].

 

Die Maßnahmen zielen in der Prävention und bei leichten Dysbalancen auf die Selbstkompetenz, Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit ab. Denn kennt ein Mensch seinen Konstitutionstyp, Situationen bzw. innere und äußere Einflüsse, die auf die Konstitution und damit die Gesundheit einwirken, ist der Mensch dazu befähigt mit einem Basiswissen über die zugeordneten Eigenschaften von Lebensmitteln aktiv zum Erhalt und zur Förderung der Gesundheit beizutragen. In diesem Zusammenhang muss auch der Placeboeffekt in Betracht gezogen werden, da Studien zu den Effekten Tibetischer Ernährung bislang fehlen [11].

In der Therapie stellen diätetische Maßnahmen entweder die alleinige oder adjuvante Behandlung dar. Dies ist von der Art und Ursache der Beschwerde oder Krankheit abhängig. In diesem Falle gibt die tibetische Ärztin/der tibetische Arzt konkrete Anweisungen zur Lebensmittelauswahl und deren Zubereitung. Die erfahrungsmedizinische Maßnahme kann vorübergehend oder dauerhaft verordnet werden [9].

Beispiel

Im Falle einer Erkrankung, die sich durch Fieber symptomatisch äußert, wird der Verzehr von kühlenden Lebensmitteln so lange empfohlen bzw. verordnet, bis sich die Körpertemperatur wieder normalisiert hat. Kühlende Lebensmittel sind z. B. Quark aus Kuhmilch, Buttermilch, Wildfleisch und gekochtes und gekühltes Wasser. Lebensmittel wie z. B. Milch, Zwiebeln, Honig und Fisch sollten nicht verzehrt werden, da diese Lebensmittel wärmend wirken und die Genesung behindern oder verzögern.

 

Handelt es sich hingegen um chronische Beschwerden, die auf Hitze zurückzuführen sind, z. B. Obstipation, wird der Verzehr bestimmter kühlender Lebensmittel wie z. B. Kirschen und Birnen regelmäßig empfohlen.

Ernährungsinterventionen im Rahmen der Tibetischen Medizin sind auch deshalb eine wichtige Säule in der Prävention und Therapie, weil sie einfach, schnell und kostengünstig umgesetzt werden können. Vor allem aber ist sie eine individuelle Maßnahme, die für den individuellen Menschen entsprechend dessen Bedürfnissen ausgerichtet ist [9].

Fazit

In der Tibetischen Medizin sind Ernährungsinterventionen eine feststehende Säule, die in der Prävention und Therapie von Beschwerden und Krankheiten grundsätzliche Berücksichtigung finden. Die Effektivität von Ernährungsinterventionen sowohl im Rahmen der Prävention und Therapie wird von Tibetischen Ärzten/Ärztinnen als selbstverständlich betrachtet, wobei der Einsatz bestimmter Nahrungsmittel grundsätzlich in der Behandlung von jedweden Beschwerden und Krankheiten erfolgt. In der westlichen Ernährungstherapie respektive in der Biomedizin ist diese Herangehensweise nicht möglich, weil das naturwissenschaftliche und nachweisbasierte System, Belege z. B. aus analytischen Studien erfordert. Da das gesamte System der Tibetischen Medizin, einschließlich der Ernährungstherapie, auf Erfahrung und nicht auf Evidenz beruht, müssen Inhalte, Maßnahmen und Sicherheitsaspekte geprüft und validiert werden. Dennoch lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Tibetischen Medizin und tibetischen Ernährungsinterventionen auch für praktisch tätige Ernährungsfachkräfte, da der Fokus auf der Prävention liegt und immer individualisierte Präventions- und Therapieansätze verfolgt werden. Weiterhin gibt es zahlreiche Gewürze (und Arzneipflanzen), die in tibetischen und westlichen Ernährungsinterventionen eingesetzt werden, darunter Ingwer, Galgant, Zimt, Kümmel und Kreuzkümmel.

Literatur und Quellen

  1. Khro-ru-tze-rnam (2004). Bod-kyi-gso-rig-rGyud-bshi´i-byung-tzul-drang-por-brod-pa-Gangs-ri´i-chu-rGyun-shes-bya-ba-bshungs-so. Lha-sa: Bod-ljongs-mi-dMangs-dpe-sKrun-Khang.
  2. Sarsina di, P.R.; Ottaviani, L.; Mella, J. (2011). Tibetan medicine: a unique heritage of person-centered medicine. EPMA Journal 2:385-389.
  3. Berling, N. (2008). Heilpflanzen in der Tibetischen Medizin. 61 ausgewählte Pflanzenmonografien. Essen. KVC Verlag.
  4. Donden, Y. (1997). Health Through Balance. An Introduction to Tibetan Medicine. New York. Snow Lion Publications.
  5. Gonpo, Y.Y. (2002). rGyud-bShi. 4th edition. mTzo-sNgon.
  6. Deane, S. (2019). rLung, Mind, and Mental Health: The Notion of “Wind” in Tibetan Conceptions of Mind and Mental Illness. Journal of Religion and Health 58:708–724, doi: https://doi.org/10.1007/s10943-019-00775-0.
  7. Reuter, K.P.; Weißhuhn, T.E.; Witt, C.M. (2023). Tibetan medicine: a systematic review of the clinical research available in the west. Evid Based Complement Alternat Med. doi: 10.1155/2013/213407.
  8. Finckh, E. (1975). Grundlagen Tibetischer Heilkunde. Band 1. Uelzen. Medizinische Literarische Verlagsgesellschaft mbH.
  9. Gao, J.; Pan, L.; Bi, R.; Shi, Y.; Han, Y. et al. (2021). Tibetan Medicines and Tibetan Prescriptions for the Treatment of Diabetes Mellitus. Evid Based Complement Alternat Med. . doi: 10.1155/2021/5532159.
  10. Boesi, A. (2014). Traditional knowledge of wild food plants in a few Tibetan communities. J Ethnobiol Ethnomed. 10:75. doi: 10.1186/1746-4269-10-75.
  11. Song, P.; Xia, J.; Rezeng, C.; Tong, L.; Tang. W. (2016). Traditional, complementary, and alternative medicine: Focusing on research into traditional Tibetan medicine in China. Biosci Trends. 19;10(3):163-170. doi: 10.5582/bst.2016.01105.
  12. Witt, C.M.; Berling, N.E.; Rinpoche, N.T.; Cuomo, M.; Willich, S.N. (2009). Evaluation of medicinal plants as part of Tibetan medicine prospective observational study in Sikkim and Nepal. J Altern Complement Med. 15(1):59-65. doi: 10.1089/acm.2008.0176. 
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Verfasser*in: Prof. Dr. Nadine Berling

Prof. Dr. Nadine Berling ist Ökotrophologin und promovierte in theoretischer Medizin. Sie arbeitete als zertifizierte Ernährungstherapeutin und Scientific Writer. Seit 2021 leitet sie den Studiengang Ernährungsmanagement an der APOLLON Hochschule in Bremen.