Ernährungstherapie für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

Ernährungstherapie für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

Die tägliche, ausgewogene Ernährung ist wesentlicher Baustein eines gesunden und zufriedenen Alltags und hat großen Einfluss auf viele Lebensbereiche eines jeden Menschen mit und ohne Behinderung. Essen und Trinken hat nicht allein die Funktion der Nahrungsaufnahme und somit der Zufuhr der essentiellen Nährstoffe. Sie kann wesentlich zum besseren Wohlergehen der Menschen dienen und steigert damit die individuell empfundene Lebensqualität. Essen und Trinken ist ein wichtiger Teil des sozialen Alltags, führt Menschen mit und ohne Behinderung zusammen und lässt Traditionen und Kulturen leben.

Insbesondere für Menschen mit Behinderung dient es im unterschiedlichen Maße als Rhythmusgeber am Tag, als große Freude, zur seelischen Entlastung, zum Stressabbau und zur Entspannung, allerdings oft auch zur Kompensation. Essen und Trinken ist für eine große Anzahl der Menschen mit Behinderung aus diesen Gründen mitunter das Hauptthema des Tages.

Die individuelle Lebensform wie auch die Wohn- bzw. Betreuungssituation sind entscheidende Determinanten in der Gestaltung der guten und ausreichenden Versorgung unter Berücksichtigung individueller Bedürfnisse. Es gilt die Selbständigkeit und Teilhabe der Menschen mit Behinderung durch praxisnahe und realistische Hilfestellungen zu steigern.

Wir wissen um das hohe Risiko und die steigende Prävalenz von z. B. Übergewicht und Adipositas und die assoziierten Komorbiditäten in dieser Zielgruppe. Umso wichtiger sind Angebote, welche sich an den Kompetenzen und Fähigkeiten dieser Zielgruppe in Sprache, Methodik und Didaktik annähert.

Menschen mit Beeinträchtigung, insbesondere mit verminderter Intelligenz und geistiger Behinderung haben ein vielfach höheres Risiko, an ernährungsbedingten Erkrankungen zu leiden. Es treten häufig syndromale Erkrankungen auf, diese umfassen eine Vielzahl seltener Erkrankungen, die häufig mit einer Intelligenz- minderung bzw. geistigen Behinderung und/oder angeborenen Fehlbildungen einhergehen. Das Wissen über die zugrundeliegenden genetischen Ursachen ist unvollständig. Eines der bekannten Syndrome ist das Down-Syndrom, welches sehr oft mit einer Multimorbidität verknüpft ist: kardiovaskuläre, gastroenterologische Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen wie die Zoeliakie oder das mit einer Hypothyreose verknüpfte Hashimoto-Thyreoiditis.

Das Adipositas-Risiko ist in dieser Zielgruppe um ein Vielfaches erhöht, die Komorbiditäten ebenfalls. Studien belegen, dass die Prävalenz für Adipositas bei dieser Zielgruppe deutlich höher ist als in der deutschen Durchschnittsbevölkerung (14,6 %), oftmals sogar mehr als doppelt so hoch ist mit durchschnittlich 30,5 %. Soziale Vereinsamung wird nachweislich gefördert durch Adipositas bei Behinderung.

Tabelle: Risikoerhöhung der Adipositas-Folgeerkrankungen bei Menschen mit geistiger Behinderung

Quelle: Vienenkötter, U. E. (2019): Adipositas Prävention bei Menschen mit geistiger Behinderung: Evaluation des präventiven Konzeptes Gesund und Fit©

Menschen mit Behinderung leben also mit einem erhöhten Morbiditäts-Risiko, werden in der Ernährungsberatung wenig berücksichtigt und haben kaum Zugang zu Beratungsmöglichkeiten. Es gibt wenige Kolleg*innen, die diese Menschen beraten. Aufgrund der Individualität dieser Menschen und der Unterschiede in ihrer Persönlichkeit und ihrer Beeinträchtigung benötigen sie individuelle Beratungsangebote. Auch die Lebensweise unterscheidet sich, von selbständig bis zu unterstütztem Wohnen in Einrichtungen.

Ein Beispiel:

Herr V. arbeitete seit Jahren in einem Hamburger Café als Service-Kraft unter sozialpädagogischer Anleitung. Es machte ihm Freude, Menschen zu treffen, deren Wünsche zu erfragen und sie zu bedienen. Die Küchen-Crew und er waren ein gutes Team.

Leider schmeckten der Kuchen und die belegten Brötchen nicht nur seinen Kund*innen sehr gut und so entwickelte Herr V. in steten Schritten ein stärker werdendes Übergewicht. Auch der rege Café-Betrieb setzte ihn häufig unter Druck, welchen er am Abend durch Snacks und Süßigkeiten kompensierte.

Das Übergewicht entwickelte sich zu einer chronischen Adipositas per magna mit den oben beschriebenen Symptomen und Einschränkungen. Herr V. erhielt Unterstützung, besuchte eine Ernährungsberatung und ging mehr Spazieren. Leider führte dies, wie auch kurzfristige Diäten, nicht zum nachhaltigen Erfolg. Seine Tätigkeit wurde beschwerlicher, sein Tempo deutlich langsamer und durch eine drastische Verschlechterung seiner Schlaf-Qualität auch seine Konzentration. Dies führte dazu, dass er nun sitzend in der Spülküche arbeitet und eine deutlich höhere Krankenzeit hat.

 

Eine Lösung könnte für Herrn V. eine dauerhafte und personalisierte Ernährungsberatung und ein angemessenes Sport-Programm in einer Gruppe von Gleichgesinnten mit der Unterstützung seines beratenden Teams!

Die Beratungstätigkeit

Die Beratungsempfehlungen entsprechen den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Die Beratungstätigkeit und das Setting ist allerdings unterschiedlich: Individuell, mit und ohne Unterstützung, Gruppenberatung, Kurse oder eine Beratung ohne die Betroffenen aufgrund der stark ausgeprägten geistigen Behinderung. Immer in Leichter Sprache mit leicht verständlichen Arbeitsmaterialien. Diese werden in Arbeitsgruppen verschiedener Hochschulen entwickelt, entstehen in Kooperation der DGE e.V. mit Special Olympics Deutschland, der Lebenshilfe Deutschland bzw. aus meiner eigenen Produktion unterstützt von Praktikantinnen aus der Bildungsakademie Hamburg/Diätassent*innen-Ausbildung. Special Olympics Deutschland hat die Plattform Gesundheit leicht verstehen entwickelt mit gut nutzbaren und zielgruppengerechten Arbeitsmitteln und Informationen.

An meiner Arbeit mag ich diese Herausforderung: Diese Beratungen verlaufen sehr unterschiedlich. Die Arten der Behinderungen sind komplex und trotzdem geht es erst einmal um ein gutes Gespräch, Vertrauensbildung und eine individuelle Zielsetzung: wie lang ist die Aufmerksamkeitsdauer, die kognitiven Fähigkeiten, die Motivation? Die Beratungsinhalte werden dabei leicht verständlich kommuniziert.

Ich möchte begeistern für ein interessantes Aufgabenfeld. Ernährungsberatung für Menschen mit Beeinträchtigungen kann den Beratungsalltag sehr bereichern. Die Fachthemen in Leichter Sprache und mit unterstützender Kommunikation zu vermitteln, im Team zu beraten und Angehörige zu begleiten macht viel Freude. 

Die Beratungstätigkeit im Gesundheitsprogramm Healthy Athletes® von Special Olympics Deutschland ist für alle Ernährungsfachkräfte eine großartige Chance! Die Athlet*innen sind bewegt und neugierig auf Neues aus dem Ernährungs-Sektor! Auch die Zusammenarbeit und der fachliche Austausch mit engagierten Menschen vielfacher Fakultäten und über die nationalen Grenzen hinaus im Team von Special Olympics macht Freude und inspiriert.

Inspirationen aus meiner Praxis

Meine beruflichen Stationen kreuzten fortwährend Menschen mit Intelligenzminderung und Behinderungen. Dies nahm ich 2013 zum Anlass, in einem eher ehrenamtlichen Kontext einen Präventionskurs im Handlungsfeld Ernährung beider Präventionsprinzipien zu entwickeln. Ich hatte die Chance, die Arbeit im Café Ursprung geführt von Menschen mit geistiger Behinderung unter Leitung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Hamburg, zu unterstützen. Dieses Café-Team war quasi meine Start-Gruppe. Heute ist dieser Präventionskurs ein seit Jahren bestehendes Angebot in der Datenbank der Zentralen Prüfstelle für Prävention. Mit Gründung des Bildungshaus Hamburg habe ich die Fortbildung für Kolleg*innen und die Entwicklung verortet. Ernährung ist Bildung auf Augenhöhe: Seminare, Workshops, Projekte, Entwicklung von Arbeitsmaterialien, Digitalisierung zum Thema Ernährung im Leben mit Behinderung. Es folgten Projekte, wie die Umgestaltung eines Kiosks in einer Werkstatt, ein Frühlingsprojekt in einer Ausbildungsstätte zum Gartenbau, die Entwicklung einer digitalen Anwendungs-Plattform, das interdisziplinäre Gesundheits-Projekt Fit im Team seit 2019. Hier sammelte ich meine ersten Erfahrungen in der Tandem-Beratung!

In diesem Zuge durfte ich Special Olympics Deutschland (SOD) auf einer Fachtagung kennenlernen. In Kooperation mit SOD und der DGE e.V. haben wir den Beratungsleitfaden für die Beratung von Menschen mit Behinderung erweitert. Als Bundeskoordinatorin für Ernährung habe ich die Aufgabe, das Thema in ihrer Bedeutung in den anderen Teams zu vertreten und Querverbindungen in alle anderen Disziplinen zu schaffen. Also Gesundheitsvorsorge im Bereich Ernährung für Menschen mit Beeinträchtigung leben zu lassen!

Das Gesundheitsprogramm Healthy Athletes® von Special Olympics beinhaltet sieben medizinische Fachbereiche und hat sich zum Ziel gesetzt, einerseits die Gesundheitskompetenz der Teilnehmenden zu stärken, andererseits Fachpersonal zu sensibilisieren, den Versorgungsbedarf aufzugreifen und die aktuelle Datenlagen zu ermitteln. Die sieben Fachbereiche sind:

  • Health Promotion – Gesunde Lebensweise;
  • Fit Feet – Fitte Füße;
  • FUNfitness – Bewegung mit Spaß;
  • Healthy Hearing – Besser Hören;
  • Special Olympics Lions Clubs International Foundation Opening Eyes® – Besser Sehen;
  • Special Smiles® – Gesund im Mund;
  • Strong Minds – Innere Stärke.

Der Fachbereich Health Promotion – Gesunde Lebensweise bietet verschiedene Gesundheits-Themen. Insbesondere Stationen zur ausgewogenen, bedarfsgerechten Ernährung bieten Aufklärung und Beratung zur gesunden Ernährung und Trinkverhalten. Ebenfalls werden die Risiken des Rauchens und der Sonnenschutz thematisiert und richtiges Händewaschen geübt. Das Ziel ist es, die Athlet*innen für Probleme in ihrem Verhalten zu sensibilisieren, sie in ihrem Wissen und ihren Kompetenzen zu stärken und somit ihre Selbstwirksamkeit zu erhöhen!

Ernährung und Bewegung sind Bedingungsfelder, die insbesondere für Menschen mit Beeinträchtigung wichtig sind. Neben der physiologischen und sozialen Funktion spielen diese Bedingungsfelder auch im kompensatorischen Verhalten in ihren vielen herausfordernden Alltags-Situationen eine große Rolle.

 

Das Handlungsfeld der Beratung von Menschen mit Beeinträchtigungen ist bedeutend und bislang noch zu wenig beachtet. Dabei ist die Vermittlung von Beratungsthemen in der Prävention und Therapie in angemessener Methodik und Didaktik notwendig und zielführend.

Was sind Ihre Gedanken zu diesem Handlungsfeld? Schreiben Sie uns in den Kommentaren.

Weiterführende Literatur:

  • Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) (2020): DGE Beratungsstandards, Kapitel 3.7: Ernährungsberatung von Menschen mit Behinderung
  • Nowag, M. & Poppele, G. (2019): Adipositas bei Menschen mit Behinderung – Nicht zu leicht nehmen! in Inklusive Medizin – Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, Jahrgang 16, Heft 2 (Dezember 2019), S. 39-56
  • Maier-Michalitsch, N.J. (2013); Ernährung für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, Leben pur
  • Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V. (2020): Jahresbericht 2020
  • Schanze, C. (2014): Übergewicht und Adipositas bei Menschen mit Intelligenzminderung Ermittlung von Risikofaktoren unter besonderer Berücksichtigung von Psychopharmaka, Dissertation Ludwig-Maximilians Universität München
  • Vienenkötter, U.E. (2019): Adipositas Prävention bei Menschen mit geistiger Behinderung: Evaluation des präventiven Konzeptes Gesund und Fit©
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Verfasser*in: Margarete Nowag

Margarete Nowag ist Diplom-Oecotrophologin und Systemische Therapeutin. Sie absolvierte ihr Studium in Münster und Uppsala, Schweden. Ihre Schwerpunkte Adipositas und Gastroenterologie integriert sie in die Beratung von Menschen mit Beeinträchtigungen. 2014 gründete sie das Bildungshaus Hamburg. Sie bietet Seminare für Ernährungsexpert*innen mit dem Schwerpunkt Ernährung im Leben mit Behinderung an. Ihr Präventionskurs Gesund und Fit© für die Zielgruppe Menschen mit Behinderung ist bundesweit zertifiziert. Als Bundesbeauftragte für Ernährung engagiert sie sich seit 2020 bei Special Olympics Deutschland.